Über Checklisten und Grenzüberschreitung

Überrascht hinterlässt mich die Frage eines Reporters aus einem aktuellen Fernsehbeitrag anlässlich der sogenannten Sexismus-Debatte. In einem Interview fordert er – nach Worten ringend – einen Tipp, wie Mann „so was, diese Grenze, diese schwimmenden Grenzen“ erkennt. Grenzen, die im Umgang zwischen Mann und Frau nicht überschritten werden dürfen.

Losgetreten durch ungelenke Äußerungen eines deutschen Spitzenpolitikers rätselt – so scheint es – ganz Deutschland derzeit darüber, wie man mit Frauen im Arbeitsumfeld ‚richtig’ umgeht. Gefordert wird ein Rezept, eine Check-Liste, ein Sicherheitsnetz. Gesucht ist schlicht die Antwort auf die Frage „Wie sollen wir uns verhalten?“

Damit folgt die Diskussion einem gewohnten Muster. Im Unternehmenskontext gelernt ist der Ablauf: auf Fehlverhalten und Missstand folgt Verhaltenskodex und Leitlinie.

Sorry, meine Herren: Es gibt leider keine CE-Zertifizierung für zwischenmenschliches Verhalten und schon gar nicht im interkulturellen Kontext. Und sorry, meine Damen: Wohlgemeinte Orientierungshilfen, wie „Stell’ Dir vor die eigene Mutter beobachtet Dich“ oder „Überprüfe, ob Dein Verhalten im Umgang mit Partnerin oder Tochter angemessen wäre“ sind nur bedingt zielführend, weil relativ.

Auch wenn es verlockend und einladend klingt, derartige Lösungsansätze sind allenfalls ‚quick fixes’. Akute Therapien zur Behebung der Symptome. Sie behandeln nicht die Ursachen und sind damit nicht nachhaltig.

Was wirklich hilft ist der parallele Weg über das Zusammenspiel von individueller Entwicklung und organisatorischer Veränderung.

In interkulturellen Prozessen sind wir zunächst immer als Individuum gefordert. Als Einzelwesen, das bewusst den Weg durch das Selbst geht: Vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrung und im direkten Bezug zum jeweiligen Erlebniskontext.

Gefragt sind Achtsamkeit, Aufmerksamkeit, die Fähigkeit zum Perspektivwechsel, Wohlwollen, situative Klugheit – allesamt Ausdruck einer inneren Haltung und keine Verhaltensweisen, also erfahrbar und nicht im herkömmlichen Sinn erlernbar.

Es macht einen entscheidenden Unterschied, ob sich ein einzelner West-Europäer in einer asiatischen Provinz allein in der Dorfgemeinschaft erlebt oder ob er in einer der multi-kulturellen asiatischen Mega-Metropolen unterwegs ist. Es fühlt sich anders an. Und es erfordert entsprechend angepasstes Verhalten. Selbst die Gemeinschaft einer Reisegruppe verändert das subjektive Erleben nur in Nuancen. Selbstkenntnis und Intuition sind langfristig bessere Ratgeber, als Reiseführer und ‚Do’s & Don’ t-Listen’.

Oder um bei dem Beispiel der kulturellen Unterschiede der Geschlechter zu bleiben: Egal ob Mann oder Frau – als Außenseiter und allein unter dem jeweils anderen Geschlecht erleben und verhalten wir uns anders, als in einem ausgewogenen Umfeld, das uns mit unseren immanenten Besonderheiten gleichberechtigt.

Für Sensibilität im interkulturellen Umgang braucht es die individuelle Entwicklung. Nachhaltigen Erfolg bringt jedoch nur das Zusammenspiel von individueller Entwicklung und organisatorischer Veränderung. Vielleicht scheint dieser Parallelweg ein wenig mühsam, in jedem Fall aber ist er wirksam!

Veröffentlicht von

Claudia Strixner

ist freie Unternehmensberaterin mit den Schwerpunkten Kommunikation und Organisation in Wachstumsphasen, bei der Neuausrichtung und für inter- und intrakulturelle Veränderungsprozesse.